Die Ansprüche der jüngeren Generation an ihren Arbeitsplatz haben sich verändert, neue Arbeitsformen und -modelle sind gefragt. Wie KMU das als Chance nutzen können.
«Als wir unser neues Arbeitsmodell eingeführt haben, ging ein Motivationsschub durch die Firma», sagt Reto Baumgartner, Teilhaber der E-Commerce-Agentur MySign AG in Olten. Zusammen mit seinen beiden Geschäftspartnern hat er vor fast fünf Jahren die Holokratie eingeführt, eine Organisationsform, bei der die Vorgesetztenfunktion abgeschafft und die Autorität gleichmässig auf die Mitarbeitenden verteilt wird. New Work oder Arbeitswelt 4.0 wird dieses neue Verständnis von Arbeit genannt, das bei MySign seither mit Überzeugung gelebt wird. Als Auslöser für die Transformation hin zur neuen Arbeitswelt gilt vor allem die Digitalisierung, aber auch der Wertewandel der jüngeren Generation, die ganz neue Anforderungen an Unternehmen und Arbeitgebende stellt.
Ursprünglich geht die Idee von New Work zurück auf den deutsch-amerikanischen Philosophen Frithjof Bergmann. Er prägte den Begriff der «neuen Arbeit» als Alternative zu der durch den modernen Kapitalismus geprägten Lohnarbeit. Heute rückt New Work die Mitarbeitenden ins Zentrum: Wenn sie sich bei ihrem täglichen Schaffen wohlfühlen, in ihrer Tätigkeit Sinn erkennen und diese mit Freude ausüben, erhöht dies ihre Motivation und den Einsatz für die Firma, was letztendlich dem Unternehmen als Ganzes zugutekommt. Heike Bauer, Coach und New-Work-Consultant, hat unter anderem die Studie «Arbeitswelt 4.0» der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) mitinitiiert. Sie sagt: «Der Wandel hin zu einer Unternehmenskultur, in der die Zufriedenheit der Mitarbeitenden als eine der Hauptaufgaben des Unternehmens wahrgenommen wird, ist gerade für KMU eine riesige Chance.»
Dennoch stehen viele Unternehmen noch nicht da, wo sie es könnten: Wie die Studie der FHNW aus dem Jahr 2019 zeigt, befinden sich derzeit nur 12 Prozent der befragten Unternehmen in einem fortschrittlichen Stadium der Arbeitswelt 4.0; 45 Prozent der Unternehmen befinden sich mitten in der Transformation, und weitere 43 Prozent stehen noch ganz am Anfang. Heike Bauer weiss, weshalb sich Unternehmen und insbesondere KMU oftmals schwertun mit dem Schritt in die neue Arbeitswelt. «Alte Strukturen sind schwierig aufzubrechen. Das Hierarchiedenken und das Streben nach dem höchsten Tritt auf der Karriereleiter sind noch tief verankert. Es dauert eine Weile, bis sich neue Ideen durchsetzen können», erklärt sie. Zum gleichen Schluss kam auch die Studie der FHNW: Sie macht das fehlende Wissen (42 Prozent), bestehende, teilweise starre Führungs- und Organisationsstrukturen (41 Prozent) sowie Konflikte mit anderen Unternehmensprioritäten (35 Prozent) als die grössten Barrieren für Unternehmen aus. Doch vielen Angestellten geht es wie den Kollegen von Reto Baumgartner: Sie wünschen sich flexible Arbeitszeiten und -orte, Mitgestaltungsmöglichkeiten und Mitspracherecht.
New-Work-Expertin Heike Bauer.
Dass der Wandel nicht von heute auf morgen geschehen kann, darin sind sich Heike Bauer und Reto Baumgartner einig. Beide betonen, dass der Mindset entscheidend ist, schliesslich brauche es einen ganzheitlichen Wandel innerhalb des gesamten Unternehmens. Das erfordere Zeit und einen Plan: «Wichtig ist es, eine klare Strategie zu haben, wie man die Transformation vollbringen möchte, und diese auch klar zu kommunizieren», erklärt die New-Work-Expertin. Die Studie der FHNW hat allerdings gezeigt, dass 76 Prozent der Unternehmen keine Strategie haben oder diese den Mitarbeitenden nicht bekannt ist. «Hier gibt es noch viel Luft nach oben», fügt Heike Bauer an. Zwar gebe es kein Patentrezept, das für alle Unternehmen gleichermassen passe, doch eins sei klar: «Die Mitarbeitenden müssen in diesen Prozess einbezogen und ihre Individualität muss berücksichtigt werden.» Dass dies bei vielen Firmen (noch) nicht der Fall ist, zeigt die Studie der FHNW: 58 Prozent der Unternehmen binden die Mitarbeitenden nicht in die Gestaltung der Arbeitswelt 4.0 mit ein. Hier gilt es gemäss Heike Bauer anzusetzen. Konkret empfiehlt sie, zu Beginn eine Mitarbeiterumfrage zu machen. «Nur mit dem Wissen, wie die Mitarbeitenden wirklich zum Unternehmen stehen, und mit ihrer Einbindung in zukünftige Massnahmen gelingt ein erfolgreicher Start in die neue Arbeitswelt», erklärt die Expertin.
Die Mitarbeitenden von MySign wurden von Anfang an auf die Reise mitgenommen: «Als wir mit dem Gedanken spielten, unsere Organisationsstruktur komplett umzugestalten, haben wir einen Berater eingeladen, der dem ganzen Team erklärt hat, wie die neue Form unserer Zusammenarbeit aussehen könnte und wie wir diesen Weg gemeinsam als Team gehen könnten.» Die endgültige Entscheidung haben die drei Inhaber dann unter Einbezug des ehemaligen Leitungsteams getroffen. Kurz bevor das neue Modell eingeführt wurde, hat die gesamte Agentur, vom Inhaber bis zum Lernenden, ein viertägiges Inhouse-Training absolviert. «Diese vier Tage haben uns alle auf den gleichen Stand gebracht und uns mit dem nötigen Werkzeug ausgerüstet», sagt Reto Baumgartner. Danach brauchte es vor allem Zeit und Übung. Bis auf ein, zwei Mitarbeitende, die nicht mit der neuen Arbeitsweise zurechtkamen, waren alle begeistert. «Sicherlich war es von Vorteil, dass sich unsere Mitarbeitenden autonomes Arbeiten schon gewohnt waren», so der ehemalige Agenturleiter. Kommen Mitarbeitende mit der neuen Struktur nicht zurecht, muss eine Trennung nicht zwingend die logische Konsequenz sein, erklärt Heike Bauer: «Oftmals sind es banale Dinge, die Verunsicherung hervorrufen. Ich empfehle deshalb, wie dies MySign richtig angegangen ist, im ersten Schritt mittels externer Beratung den Dialog zu suchen und Feedback einzuholen.» Zudem sei mit Schulungen, die alle Mitarbeitenden auf den gleichen Stand bringen, schon viel getan. «Der Generationen-Gap muss dringend geschlossen werden, beispielsweise mit Mentorenprogrammen, bei denen die jüngere Generation älteren Mitarbeitenden hilft, digital up-to-speed zu kommen. Gleichzeitig können die Jüngeren weiterhin von der Erfahrung der Älteren lernen», ergänzt die Expertin.
Die Menschen sind das eine, welche Rolle aber spielen Arbeitsplatz und Infrastruktur in der Arbeitswelt 4.0? «Es reicht natürlich nicht, den Mitarbeitenden einen Shared Desk und einen Töggelikasten hinzustellen. Es muss sich eine Kultur des Vertrauens einstellen, dies geschieht nicht durch den Umzug in ein lichtdurchflutetes Grossraumbüro», so Bauer. Dass einladende Büroräumlichkeiten allerdings auch einen wertvollen Beitrag für mehr Zufriedenheit bei der Arbeit leisten, sieht man bei der Oltner Agentur. Sie besticht durch hohe, helle Räume, die, wenn überhaupt, nur durch deckenhohe Glasscheiben abgetrennt sind, und modernes Mobiliar. «Wir möchten, dass die Leute sich hier wohlfühlen», sagt Reto Baumgartner. Heike Bauer ergänzt: «Natürlich müssen Arbeitsort und Infrastruktur entsprechend ausgestaltet sein. Es muss jedoch nicht zwingend das ganze Büro umgebaut werden: Den Mitarbeitenden Homeoffice oder das Arbeiten in einem Co-Working-Space zu ermöglichen, sind schon wichtige erste Schritte.» Die Technologien sind da. Wichtig ist es jetzt, die Menschen zu befähigen und zu ermuntern, diese auch zu nutzen.
Wurde ein neues Arbeitsmodell schliesslich erfolgreich implementiert, bedeutet dies aber noch lange nicht, dass die Reise vorbei ist, im Gegenteil: Von nun an muss das autonome Handeln der Mitarbeitenden täglich gefördert, aber auch gefordert werden, genauso wie eine kritische und transparente Kommunikation im Team. So handhabt man dies auch bei MySign. «Wir sind in stetigem Austausch miteinander. Ist ein Mitarbeiter nicht zufrieden mit der Arbeitssituation, kann er jederzeit eine Verbesserung der Situation vorschlagen und auch durchsetzen», betont Reto Baumgartner.
Quelle: Heike Bauer
1998 durch die Gründer Reto Baumgartner und Mike Müller ins Leben gerufen, ist MySign in den vergangenen Jahren zu einer bekannten E-Commerce-Agentur und am Standort Olten zu einem attraktiven Arbeitgeber für 40 Fachspezialisten geworden. Seit 2021 ist MySign Teil der Allgeier Gruppe. Die Experten aus den Bereichen Design, User Experience (UX), Frontend- und Software-Entwicklung sowie Marketing und Projektmanagement decken sämtliche Projektanforderungen inhouse ab. Seit Beginn verfolgt die MySign AG sehr erfolgreich den dualen Ansatz von Fullservice-Agentur und Softwarehaus.
Heike Bauer ist New-Work-Consultant für Beratung und Mentoring zur Arbeitswelt 4.0 sowie Keynote-Speakerin und Organisatorin von Mitarbeiterumfragen zum Thema Employee Experience. Sie ist ehemaliges Gründungsmitglied von Future Work und unterstützt Unternehmen auf dem Weg in eine neue, digitale Arbeitswelt mit dem Instrument eines zeitgemässen New-Work-Ansatzes. Bauer schreibt für verschiedene Wissensplattformen, hat die LinkedIn-Gruppe New Work Zürich gegründet und ist im Organisationsteam von Zürich New Work Meetup.
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